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Samstag, 5. Dezember 2015

Helga König: Sonntagsgedanken, 6.12. 2015

"Habe Geduld gegen alles Ungelöste in deinem Herzen und versuche, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forsche jetzt nicht nach den Antworten, die dir nicht gegeben werden können, weil du sie nicht leben kannst. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Lebe jetzt die Fragen. Vielleicht lebst du dann allmählich, ohne es zu merken, eines Tages in die Antwort hinein." (Rainer Maria Rilke) 

Der Dichter Rainer Maria Rilke wurde am 4.12. 1875 in Prag  geboren. Deshalb auch postete ich an diesem Tage einige seiner Gedanken und eines seiner Liebesgedichte in die sozialen Netzwerke.

An einen Menschen wie Rilke sollte man immer wieder erinnern, denn er zählt zu den besten deutschsprachigen Lyrikern aller Epochen. Durch ihn lernt man wie kaum durch einen anderen die Welt der Poesie kennen.  Diese ist notwendig, um  die Welt der Seele zu begreifen, aber auch um  zu verstehen, weshalb Empfindung durch Sprache zur Kunst werden kann. 

Eine von Rilkes Sentenzen habe ich den heutigen Sonntagsgedanken vorangestellt, weil sich von ihr vermutlich viele Leser angesprochen fühlen und möglicherweise Rat und Trost erhalten. 

Rilke hatte einst Philosophie, Kunstgeschichte und Literatur in Prag studiert und lernte auf einer Reise nach Russland, die er mit seiner großen Liebe Lou Andreas –Salomé unternahm, den Schriftsteller Leo Tolstoi kennen. Von diesem stammt der Ausspruch: 

"Das wichtigste Ziel ist das Jetzt, der wichtigste Mensch ist der Nächste, mit dem ich jetzt spreche; die wichtigste Tat ist, dem Nächsten Gutes zu tun."

Wie  könnte  der Träumer Rilke mit diesem Satz umgegangen sein, welche Fragen könnten sich ihm dabei gestellt haben und welche Fragen überhaupt stellten sich ihm bei "Anna Karenina", der Protagonistin des gleichnamigen Romans von Tolstoi? 

Die Wesensunterschiede zwischen Anna und Lou war riesig, was sich nicht nur damit begründen lässt, dass Lou eine Intellektuelle war.  Hätte sie Annas Verhalten akzeptieren können?  Ich vermute eher nicht, aber sie hätte es verstanden aufgrund ihrer analytischen Fähigkeiten.

Rilkes Kontakte zur Kunstszene führten ihn einige Jahre nach seinem Russlandaufenthalt in die Künstlerkolonie nach Worpswede und von dort sogar nach Paris, wo er als Sekretär des Bildhauers Auguste Rodin zeitweilig beschäftigt war und von Mäzenen unterstützt wurde. "Rodin war einsam vor seinem Ruhme. Und der Ruhm, der kam, hat ihn vielleicht noch einsamer gemacht...", so beginnt der erste Teil des von Rilke 1902 verfassten Werkes "Auguste Rodin". Schon diese Zeilen lassen den feinfühligen Beobachter erkennen, der problemlos einen Charakter offenlegen konnte.

Doch ich möchte an dieser Stelle weder Rilkes  Leben ausbreiten, noch auf seine Werke eingehen, sondern mich der Eingangssentenz zuwenden: 

"Habe Geduld gegen alles Ungelöste in deinem Herzen und versuche, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forsche jetzt nicht nach den Antworten, die dir nicht gegeben werden können, weil du sie nicht leben kannst. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Lebe jetzt die Fragen. Vielleicht lebst du dann allmählich, ohne es zu merken, eines Tages in die Antwort hinein." (Rainer Maria Rilke) 

Je länger ich diesen Gedanken auf mich wirken lasse, umso mehr muss ich an Salomos Worte denken "Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde". Das vergisst man leider all zu oft. Man lebt in Vorhaben hinein und dieses Hineinleben braucht Zeit. Dies hat Rilke in seinem Gedanken wunderbar formuliert und begreifbar gemacht.

In meiner 6 bändigen Rilke-Ausgabe aus Studienzeiten, suchte ich nach einem Gedicht, mit dem ich die heutigen Sonntagsgedanken abschließen möchte. 

Bist du so müd? Ich will dich leise leiten 
aus diesem Lärm, der längst auch mich verdross.
Wir werden wund im Zwange dieser Zeiten.
Schau, hinterm Wald, in dem wir schauernd schreiten,
harrt schon der Abend wie ein helles Schloss.

Komm du mit mir. Es solls kein Morgen wissen, -
und deiner Schönheit lauscht kein Licht im Haus ...
Dein Duft geht wie ein Frühling durch die Kissen:
Der Tag hat alle Träume mir zerrissen, 
du, winde wieder einen Kranz daraus.

 (Raine Maria Rilke "Sämtliche Werke", Insel Verlag, 1980) 

Wieso gerade dieses Gedicht? Weil es voller Poesie all das zum Ausdruck bringt, was Rilke in meinen Augen als feinsinnigen Dichter ausmacht und weil  es mich - aus welchen Gründen auch immer-  an den portugiesischen Dichter Pessoa erinnert, den ich gedanklich in der Nähe von Rilke sehe.

Helga König

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